Autorinnen: Kathrin Hillewerth, Noemi Nussbaumer

Der Bericht der Pflegedienstleitung Kathrin Hillewerth und Fachexpertin Noemi Nussbaumer erzählt aus Kundinnensicht, wie sich die funktionierende Partizipation mittels Soziokratie positiv auf diese Pionier-Organisation auswirkt.

In der Klinik Chirurgie des Spitals Zollikerberg in der Schweiz decken erfahrene Pflegekräfte und Ärzt*innen ein breites Spektrum an Behandlungsmöglichkeiten sowie Operationen ab und leben in ihrem Berufsalltag die Organisationsform der Soziokratie.

Der Wunsch nach mehr Mitspracherecht bei Entscheidungen als Ergebnis einer Zufriedenheitsumfrage unter den Mitarbeitenden führte das Führungsteam zum Konzept der Soziokratie. Die Entscheidung sich mit den soziokratischen Führungsprinzipien näher auseinandersetzen zu wollen war getroffen.

Es ist bereits das zweite Mal, dass ein Spital durch Begleitung von Suzanne Käser, zertifzierte Soziokratie-Expertin (CSE), erfolgreich Soziokratie eingeführt hat. Brigitta Buomberger war als damals noch Lernende Soziokratieexpertin eine wichtige Mitarbeiterin im Projekt.

Neugierig? Hier geht es direkt zum Bericht.

Fallstudie Lebenshilfe Salzburg

Autor: Guido Güntert

Die Lebenshilfe Salzburg beschäftigt rund 840 Mitarbeiter*innen an über 80 Standorten im gesamten Bundesland Salzburg und ist die größte Anbieterin von Dienstleistungen für Menschen mit intellektueller Beeinträchtigung.

Die Vision der Lebenshilfen in Österreich ist die selbstbestimmte Teilhabe von Menschen mit Beeinträchtigung an einer barrierefreien Gesellschaft, was in dem Überbegriff der “Inklusion” zusammengefasst werden kann.

Die Mission ist, durch die Dienstleistungen und die Interessensvertretungsarbeit die Vision in die Tat umzusetzen. Grundlage dafür ist die UN-Konvention über die Menschenrechte von Menschen mit Behinderungen.

Guido Güntert ist seit 2006 Alleingeschäftsführer der Lebenshilfe Salzburg gGmbH. In dieser Fallstudie teilt er seine persönlichen Erfahrungen mit Soziokratie und schildert den Weg der Lebenshilfe auf dem Weg zur Selbstorganisation.

Neugierig? Hier der ganze Bericht zum Download

Fallstudie – Lebenshilfe Salzburg

Dr. Andreas Artlich und Luise Ogrisek haben sich im Rahmen ihres Peergruppen-Projekts der CSE Ausbildung mit dem Thema NewWork & Soziokratie auseinandergesetzt. Dr. Andreas Artlich, Chefarzt der Oberschwabenklink, hat sich dazu mit Stefan Scheller, einem Blogger im Bereich HR, unterhalten. Das Gespräch kann bei dem Podcast-Format “Klartext HR” auf Spotify und ApplePodCasts angehört werden. Der Podcast bietet einen spannenden Einblick in die organisatorische Arbeit eines Spitals und die Wirkung der Soziokratie darauf.

Fallstudie Armutskonferenz

Autorinnen: Michaela Moser und Judith Pühringer

Die Armutskonferenz ist ein aus über 40 Organisationen aufgebautes Netzwerk. Die Verbesserung der Lebenssituation von armutsbetroffenen Menschen steht im Mittelpunkt der (Zusammen-)arbeit der Akteur*innen. Seit 2014 findet die Soziokratie schrittweise Einzug in die Organisations- und Arbeitsweise der Armutskonferenz. Der Transformationsprozess wurde insbesondere durch Michaela Moser und Judith Pühringer eingeleitet und geprägt. Wesentliche Argument für die Einführung der Soziokratie waren die besser Verteilung des Arbeitsausmaßes und der Verantwortung sowie die stärkere Einbindung von Menschen mit Armutserfahrung in die Organisationseinheit.

Neugierig? Hier der ganze Bericht wie Soziokratie in diesem Verein eingeführt wurde und wie sie nun gelebt wird und wirkt: zum Download

Fallstudie – Armutskonferenz

Wir werden oft gefragt: Wo sind sie denn, diese Organisationen die Soziokratie eingeführt haben und es auch wirklich funktioniert? Hier stellen wir euch ein weiteres Pionierprojekt vor.
Die Schuleinheit Rychenberg in Winterthur (Schweiz) hat die vergangenen 3 Jahre den Transformationsprozess hin zu einer umfassenden soziokratischen Organisationsform durchlebt und die Soziokratie durchgehend eingeführt. Dieses Pionierprojekt in Kontext einer öffentlichen Schule mit ca 700 Kindern von Kindergarten bis Oberstufe und ca 75 Lehrpersonen wurde begleitet von Suzanne Käser (Projektleitung) und Anja Ritter, beide zertifizierte Soziokratie Expertinnen. Wir sind beeindruckt vom Mut und Durchhaltewillen der Co-Schulleitung sowie des gesamten Lehrer*innen Teams! Es ist gelungen und wir freuen uns gemeinsam über diese Tatsache. Hier ein Bericht der Co-Schulleitung zu dieser gelungenen Transformation. Er wurde im Buch ’Schule 21 macht glücklich’ veröffentlicht. Sehr lesenswert.

Fallstudie “Schule 21 macht glücklich” als PDF

Fallstudie – S.I.E SOLUTIONS

Autor*innen: Siegfried Vogel und Barbara Strauch

Siegfried Vogel ist Organisationsentwickler und Innovationsmanager bei S.I.E. Solutions. Er hat den Wandelprozess bei S.I.E kreiert und umgesetzt.

S.I.E SOLUTIONS ist Entwicklungs- und Fertigungsdienstleister für Embedded Computing Lösungen in den Branchen: Medical, Security, Telematic Infrastructure, hat 130 Mitarbeiter*innen an 3 Standorten in Österreich und Deutschland und einen Umsatz von 46,4 Mio € in 2019. Gegründet wurde S.I.E SOLUTIONS als Familienbetrieb von Udo Filzmaier, vor etwa 25 Jahren. Die S.I.E SOLUTIONS ist heute Teil der FT AG Unternehmensgruppe.

Neugierig? Hier der ganze Bericht wie Soziokratie in diesem Unternehmen eingeführt wurde und wie sie nun gelebt wird und wirkt: zum Download

Fallstudie – S.I.E SOLUTIONS

Die Trägheit überwinden 

Mühsam empfand Stef Kaandorp die Treffen des medizinischen Kooperationsverbands. Dank der SKM sind sie jetzt viel effizienter. Es wurden bessere Entscheidungen getroffen, die wirklich umgesetzt wurden.

Im Verband sind GynäkologInnen, Hebammen und EntbindungspflegerInnen vereint. In ganz Niederlanden existieren solche Kooperationsverbände. Zusammen repräsentieren sie die Geburtenhilfe. Kaandorp ist Vorstand der VSV Zaanstad.

Der Gynäkologe empfand die Meetings der Geburtenhilfepartnerschaft mühsam und war bereits genervt. Treffen wirkten wie der Stammtisch eines Tennisclubs, nicht wie ein wichtiges Entscheidungstreffen bei dem man über die Zukunft seines Berufes spricht.

 

 

“Schon allein eine Gruppe von 40 Personen zu versammeln ist eine Herausforderung. Wenn dann nicht jeder anwesend war, wurden  Entscheidungen auch nicht von Allen mitgetragen, oft fehlte die Zeit Vorschläge zu argumentieren, die dann einfach „niedergestimmt“ wurden. All das war nicht notwendig wie sich herausstellte.” erzählt Stef Kaandorp.

 

 

Professionalisierung

Es gab einen Beschluss zur Professionalisierung in Bezug auf die Versammlungstechnik und der Organisationsform.  Im Zuge dessen haben sie sich für eine Pilotphase mit Soziokratie unter der Begleitung des Soziokratie Zentrums (TSG Office) in den Niederlanden entschieden. Der Organisationsbegleiter Pieter van der Meché hat die Kreisstruktur mit uns entworfen und uns bei den Kreisversammlungen begleitet.

 

Meetings mit 12 statt 40 Personen

Nun werden wichtige Entscheidungen im Kreis mit nur 12 statt 40 Personen getroffen. Diese 12 Mitglieder des Kreises haben das Mandat Entscheidungen zu treffen, Delegierte sorgen für die Doppelte Verknüpfung.

 

Hebamme Lisette Walk, ein Mitglied des Kreises: “Die TeilnehmerInnen verstehen, dass es hier um viel geht, und dass wir hier gemeinsam Entscheidungen treffen. Alle kommen pünktlich und nehmen die Sache ernst.” Die Meetings laufen nun in Runden und Entscheidungen mit Konsent. 


“Die Besonderheit ist: SKM ist nicht Top-Down. Die Macht liegt im 
Kreis” sagt Kaandorp.

 

 

Das ist Fortschritt

Die Veränderungen, die mit Hilfe der SKM gefunden wurden, führen zu sichtbaren Verbesserungen, die allen gefallen. Direktorin der Entbindungspflege Marie-José Ribeiro Duarte kann das gut beurteilen:  Sie ist Mitglied von vielen  Kooperationsverbänden, weil ihre Organisation Kraamvogel die Entbindungspflege in ganz Niederlanden abdeckt. „Im Kooperationsverband ‘Zaanstreek’ sehen wir einen Fortschritt, weil es nun wirklich Entscheidungen gibt. Das ist ein deutlicher Unterschied zu den anderen medizinischen Kooperationsverbänden, in denen ich mitwirke. Da fehlen die Entscheidungen oder es ist oft nicht klar, was entschieden wurde.“

 

 

Argumente statt Stimmen

Unsere Kommunikationskultur entwickelt sich und wir entscheiden nun per Konsent anstatt per Mehrheitsprinzip. Stef Kaandorp: „In der damaligen Großgruppe, war nur Zeit für fertige Vorschläge, die dann per Mehrheit abgestimmt wurde. Für den Austausch von Argumenten war kein Raum. Es wirkte manchmal wie eine Stimmungsmache: Menschen wählten gegen etwas, weil sie nicht einverstanden waren, noch bevor ein Vorschlag fertig präsentiert wurde. Wenn ein Vorschlag dann abgewählt wurde, kamen wir nicht weiter.

“Jetzt läuft das anders,” sagt Kaandorp. “Man wählt nicht mehr dagegen, aber man nennt seine Argumente, warum man Mühe hat mit einem Vorschlag. Mit kleinen Anpassungen am Vorschlag kommen wir meist schnell voran in Richtung einer tragfähigen Lösung. Verschiedenheiten lassen sich überbrücken und wir kommen vorwärts! “

 

Manchmal zurück zur Basis

“Manchmal braucht es im Prozess auch eine Schleife zurück zur Basis um gute Lösungen zu finden,” erzählt Hebamme Lisette Walk. Dann brauchen wir länger. “Aber das macht mir nichts, in Anbetracht der Wichtigkeit unserer Themen.” Es geht bei uns auch um Abläufe und Richtlinien für Hebammen, GynäkologInnen und EntbindungspflegerInnen: Es geht um Vereinbarungen, wie wir mit bestimmten Situationen umgehen.

 

Die Stillen werden auch gehört

In Soziokratischen Meetings sprechen die Mitglieder im Kreis. Marie-José Ribeiro Duarte empfand die strukturierete Kommunikation im Kreis anfangs sehr formal. „Ich bin eher extrovertiert, meine Meinung wurde auch bisher gehört. Aber es ist schön zu sehen, dass durch die Runden nun auch zurückhaltende Mitglieder im Kreis sichtbar und wirksam werden. Das finde ich sehr kraftvoll, so haben mehr Informationen am Tisch. Die Entscheidungen werden so besser und halten.

Lisette Walk gefallen die Runden auch. “Ein wenig Struktur gefällt mir. Die Treffen sind kein Teekränzchen. Diskussionen und der Austausch von Meinungen werden von der Entscheidungsfindung getrennt. Das schafft Klarheit.”

 

Fantastisch: Entscheidungen die getragen werden

All diese Gespräche um zu einer Entscheidung zu kommen!
“Ich hielt es anfangs für zeitaufwändig,” sagt Marie-José Ribeiro Duarte von Kraamvogel. “Aber meine Meinung hat sich sehr geändert. Wir reden mehr, weil wir die Themen von allen Seiten beleuchten und gemeinsam die Sache besser durchdenken und wie wir die Ausführung der Entscheidung sichern können. Die Entscheidungen sind umsichtiger. Aus meiner Sicht läuft es fantastisch. Mit der SKM treffen wir wirklich Entscheidungen, die von allen getragen werden und weichen nicht mehr davon ab.”

 

Zusammenarbeiten in einer Ablauf-Kette

Effizientere und professionellere Treffen sind nur eine Seite der SKM. Sie hilft auch mit einer anderen komplexen Herausforderung umzugehen: Die gesamte Kette der Geburtshilfe zu koordinieren. Die niederländische Regierung möchte, dass die ganze Kette von Geburtshebamme, Gynaekologie und Entbindungspflege besser abgestimmt zusammenarbeitet. Das bedeutet intensivere Zusammenarbeit, manchmal eine Umverteilung von Aufgaben und es gilt weniger Geld zu verteilen. Niemand will als Verlierer da stehen. Dieses alles zu berücksichtigen braucht Improvisation und Kreativität in der Zusammenarbeit.

 

Interessen auf der Waage

„Unsere Territorien überschneiden sich” sagt Stef Kaandorp.”Zum Beispiel ‚Wer trifft sich mit den Klientinnen wann im Prozess‘. Da wird es kompliziert. Interessens-Konflikte und auch finanzielle Interessen sind im Spiel. Aber mit der Soziokratie reden wir anders miteinander, du kannst nicht sagen: ‘Ich möchte den Patienten behalten, weil ich meine Hypothek (Leihe auf den Kauf eines Hauses) zurückzahlen muss’: Weil du das auch im Sinne der gemeinsamen Ziele argumentieren musst! Die Hauptfrage ist: Was ist die beste Pflege, die wir bieten können?“

 

Die Klientin im Mittelpunkt

“Dank des offenen Austausches von Argumenten, wird es wirklich möglich, dass die KlientInnen im Mittelpunt stehen” sagt Marie José Duarte Ribeure. “Man muss sich klar aussprechen und bekennen, das gilt für jede Berufsgruppe in der Kette.”

Über heikle Themen werden nun Regelungen beschlossen, wie z.B. Hausbesuche von Hebammen und Entbindungspflege (weil sie das manchmal beide machen möchten, und wie verteilt man dann die Aufgaben?). Genauso wie die Regelungen von Terminen über den Zeitraum von 30 Wochen zwischen GynaekologInnen und Hebammen (nicht jede Hebamme meint die Termine mit der GynäkologIn haben eine Mehrwert). Diese Regelungen werden gerade in kleinen Schritten entwickelt. 

 

Wie geht’s weiter?

Insgesamt sind die Mitglieder des Leitungskreises zufrieden mit der Pilotphase. Die Versammlungen laufen besser. Die Trägheit ist vorüber. Gute Entscheidungen werden getroffen und die Zusammenarbeit im Verband nimmt Form an. Und wie geht es weiter? Stef Kaandorp, der Präsident sagt: “Ich möchte gerne meine Rolle als Vorsitzender des Verbandes mit einer Geburtshebsamme teilen.” Lisette Walk, the midwife sagt: “Ich genieße die Begleitung von Pieter van der Meché, der als unabhängiger Moderator das Vertrauen aller Beteiligten hat.”

Marie-José Ribeiro Duarte, Geschäftsführerin von Kraamvogel: „Ich komme aus dem Dienstleitungsbereich. Dort gibt es auch Interessenskonflikte. Aber sie sind nicht so groß wie die derzeitigen Konflikte in der Geburtspflege. Das ist gut nachvollziehbar, weil eine Änderung in der Finanzierung ansteht. Dass die Soziokratie es uns ermöglicht unter diesen Umständen gut zusammenarbeiteten ist großartig.“

Für Rückfragen an das Zentrum in NL: Call us on 010-4523289 or email to [email protected] .

Übersetzt aus dem Niederländischen für das Soziokratie Zentrum. Originaltext: http://www.sociocratie.nl/sociocratie-in-de-praktijk/ketensamenwerking-einde-aan-stroperigheid/

Soziokratische Prinzipien in politischer Partizipation. Eine Fallstudie aus Holland

In den westlichen Demokratien sinkt das Vertrauen in Verwaltung und Politik und es macht sich ein Gefühl der Machtlosigkeit unter größeren Teilen der BürgerInnen breit. Das belegen unterschiedliche wissenschaftliche Studien. Die folgende Studie zeigt ein Beispiel der holländischen Gemeinde Utrechtse Heuvelrug (UH), die mit zirkulärem Partizipationsdesign nach Vorbild der Soziokratie, diesem Vertrauensverlust zu begegnen versuchte und damit Erfolg hatte.
Der folgende Text ist eine Zusammenfassung und freie Übersetzung der Studie „From Competition and Collusion to Consent-Based Collaboration: A Case Study of Local Democracy“*  (Von der Konkurrenz und Entscheidungsfindung hinter verschlossenen Türen zu einer konsentbasierten Zusammenarbeit. Ein Fallbeispiel von lokaler Demokratie) durch Markus Spitzer (Partner des Soziokratie Zentrum Österreich) am 7.3.2017.

Die Ausgangslage und Fallstudie

Die holländische Gemeinde Utrechtse Heuvelrug (UH) beherbergt etwa 50.000 BürgerInnen. 2006 entstand sie aus dem Zusammenschluss von fünf Gemeinden. In den folgenden Jahren fokussierte sich die Administration auf interne Reorganisation und die Neuausrichtung von politischen Strategien, Verfahren und dem Online Support zwischen den früheren Gemeinden. Gleichzeitig entschied der Stadtrat ein neues Rathaus zu bauen. Durch diese Entscheidung entflammte eine Diskussion, die das Vertrauen in die politische Führung stark fallen ließ. 5.000 Unterschriften von BürgerInnen gegen das neue Rathaus und verschiedenste Protestformen auf lokaler und nationaler Ebene führten nicht zu einem Umdenken der Politik. Ein Stadtrat musste zurücktreten.

„There is a crack in everything That’s how the light gets in.“ (Leonhard Cohen, Lied: Anthem. Anmerkung von Markus Spitzer)

In dieser angespannten Situation suchten RegionalpolitikerInnen nach einer Möglichkeit den Spalt zwischen politischem System und BürgerInnen zu überbrücken. Anfang 2012 wurden BürgerInnen eingeladen um Optionen für eine effektivere lokale Regierung und Verwaltung zu erarbeiten. Eine Gruppe von 15 BürgerInnen formte sich unter dem Namen „Brückenbauer“ („bruggenbouwers“). Im April 2013 präsentierte die Gruppe ihre Ergebnisse. Die Ergebnisse wurden in einem speziellen Stadtratstreffen diskutiert und per Konsent ein Pilotprojekt gestartet, in dem die Ergebnisse umgesetzt werden sollten.
Nachdem ein neuer Stadtrat gewählt wurde, entschieden alle gewählten Mitglieder im Konsent über das Regierungsprogramm, das starke Einsparungen enthielt. Ein Novum, dass auch die Oppositionsparteien ihren Konsent gaben. Zum Thema politische Partizipation und Demokratie verabschiedete der Stadtrat folgende Ziele:

  • Stärkere Einbindung der BürgerInnen und aller Stakeholder in Politikprozesse und zwar so früh wie möglich
  • Effizientere Entscheidungsfindung im Stadtrat
  • Klare Grenzen für Mitbestimmung vom Beginn des Prozesses
  • Klare Aufgabenbeschreibungen für BürgermeisterIn und Stadträte
  • Flexibleres Verfahren policy Themen zu behandeln
  • Drei Schritte der Entscheidungsfindung für alle Grundsatzentscheidungen: Information/Konzeptualisierung/Verstehen – Meinungsbildung – Entscheidungsfindung

Im Februar 2015 entschied der Stadtrat mit folgendem Pilotprojekt zu beginnen:

  • Jeden Donnerstagabend findet ein Treffen des Stadtrats mit interessierten BürgerInnen statt um je ein spezifisches policy Thema zu konzeptualisieren und Meinungen zu bilden
  • Format und Ort dieser Treffen sind offen um maximale Flexibilität zu gewährleisten
  • Zusätzlich trifft sich der Stadtrat alle zwei Wochen um formale Entscheidungen zu treffen
  • Wenn der Vorschlag im Vorhinein in einem oder mehreren öffentlichen Treffen besprochen wurde, gibt es keine erneute Diskussion, sondern eine direkte Entscheidungsfindung mittels Konsent
  • Der Stadtrat kann auch entscheiden, ohne zuvor die BürgerInnen zu befragen, was vor allem bei untergeordneten Themen der Fall ist

Dieser Prozess wurde entwickelt um den BürgerInnen eine klare Botschaft zu geben. Jeden Donnerstagabend können sie direkt auf die wichtigsten politischen Themen Einfluss nehmen, oder neue Ideen einbringen, also Agenda setting betreiben. Für den Stadtrat ergibt sich die Möglichkeit die Ideen und Expertise der BürgerInnen einzuholen und seine Rolle als Koordinator von partizipativen Prozessen und lokaler Demokratie zu stärken.

Erfahrungen und Erkenntnisse

Die Studie kann auf die kurze und intensive Erfahrung seit Februar 2015 zurückschauen, was bedeutet, dass es keine Erkenntnisse über die langfristigen Auswirkungen des Partizipationskonzeptes geben kann. Die kurzfristigen Auswirkungen sind jedoch erfolgsversprechend:

  • Es gibt einen leichteren Zugang für BürgerInnen sowohl zu den Entscheidungen als auch zu EntscheidungsträgerInnen
  • BürgerInnen können in früheren Phasen an Projekten mitarbeiten, direkt bei der Konzeption. Früher wurde das fertige Projekt vorgestellt und es gab nur Möglichkeiten für kleinere Änderungen
  • Das Vertrauen von BürgerInnen in die Entscheidungen der Stadträte steigt, weil BürgerInnen ihre Expertise bereits zu Beginn in den Prozess einspeisen und Stadträte diese Informationen in ihre Entscheidungen mit einfließen lassen
  • Entscheidungen werden sowohl innerhalb der Stadtpolitik als auch bei den BürgerInnen besser akzeptiert
  • Entscheidungen oder Themen die noch keine Lösungen haben, werden von den Stadträten häufiger den BürgerInnen sichtbar gemacht und an Donnerstagabenden diskutiert, anstatt in Kommissionen oder verschlossenen Verhandlungsräumen nach Lösungen zu suchen
  • Der zirkuläre Ansatz (Konsultation der BürgerInnen, Meinungsbildung mit BürgerInnen, Entscheidung im Stadtrat) ist bei BürgerInnen und PolitikerInnen akzeptiert
  • Der Graben zwischen PolitikerInnen und BürgerInnen wurde überbrückt, denn in den Donnerstagsabenden entstehen spontan gegenseitiger Respekt und ein Teamgefühl, die den Zusammenhalt und die gegenseitige Akzeptanz stärken
  • Durch den Konsentansatz können bei Entscheidungen die einzelnen Sichtweisen der BürgerInnen besser integriert UND Entscheidungen in hoher Qualität getroffen werden
  • Die politische Kultur scheint sich von einer Konkurrenzdemokratie zu einer kollaborativen Demokratie zu entwickeln

Ein bemerkenswertes Ergebnis der neuen Partizipationsprozesse zeigte sich während der Flüchtlingskrise 2015. Wiederholte Forderungen der nationalen Regierung an die Gemeinden mehr Flüchtlinge aufzunehmen führten in vielen Gemeinden zu Ängsten und Abwehrhaltungen. In UH beschäftigten sich BürgerInnen und Stadträte gemeinsam an mehreren Abenden mit dem Thema und so konnten Ängste gehört, Ideen gefunden und das Vertrauen in die Stadtpolitik gestärkt werden. Die Entscheidungen des Stadtrats hatten sowohl auf politischer Ebene als auch unter den BürgerInnen hohe Akzeptanz und in der Folge nahm UH mehr Flüchtlinge auf, als von der Gemeinde im Landesschnitt gefordert worden wäre.

Empfehlungen

  • Versuche die Gräben zwischen lokaler Politik und BürgerInnen zu schließen fangen am besten bei den Wurzeln des Problems an: die Notwendigkeit die Bedürfnisse und Interessen jedes einzelnen Bürgers/Bürgerin zu respektieren (der hier gezeigte Weg dazu ist der zirkuläre Konsultationsprozess am Beginn von Entscheidungsprozessen)
  • BürgerInnen sind nicht politikverdrossen, sondern suchen Möglichkeiten sich speziell für die Themen einzusetzen, die sie am meisten interessieren. Gibt man ihnen die Möglichkeit, dann sind sie engagiert und bringen hohe Expertise ein. Auf der anderen Seite sind sie nicht unbedingt interessiert an einer breiten Palette an Themen aktiv mitzuarbeiten. Die Studie legt nahe, dass Partizipationserfolge dann höher sind, wenn es um konkrete Themen geht und die Menschen dabei sind, die wirklich daran interessiert sind. Können sie dort beitragen wo sie wollen steigt das Vertrauen, dass auch andere Themen mit Einwirkung anderer BürgerInnen zu guten Entscheidungen geführt werden. Die Frage ist also: wie können diese unterschiedlich in der Bevölkerung verborgenen Interessen und Expertisen für den politischen Prozess nutzbar gemacht werden und diese Fallstudie bietet eine Antwort.

* A. Georges L. Romme, Jan Broekgaarden, Carien Huijzer, Annewiek Reijmer, Rob A.I. van der Eyden (2016): From Competition and Collusion to Consent-Based Collaboration: A Case Study of Local Democracy. In: International Journal of public administraion. Hier kostenpflichtig downloadbar:

** Den übersetzten Artikel können Sie hier als pdf downloaden