Interview von Jürgen Hamader /TAO
Barbara Strauch ist ursprünglich Hochbau-Ingenieurin, im zweiten Bildungsweg seit 1994 Diplomierte Sozialarbeiterin, 17 Jahre bei pro mente OÖ im Sozialmanagement tätig. Von dort hat sie viel Führungs- und Moderationserfahrung mitgebracht, bevor sie sich 2009 mit ihrer Ökodorf-GmbH selbstständig gemacht hat. Sie gestaltete ab 2000 die österreichische Bewegung zur Förderung gemeinschaftlicher Lebensformen wesentlich mit, sodass sie ab 2010 für die entstehenden Cohousing-Projekte im Großraum Wien-NÖ Beratung zur Organisationsentwicklung anbieten konnte. Von den vielen auf ihrem Weg gefundenen Methoden für gelingende Gemeinschaft fand sie 2009 auch die “SKM – Soziokratische KreisorganisationsMethode” nach Gerard Endenburg und hat in den Niederlanden als erste Österreicherin die Zertifizierung zur “CSE – Certified Sociocratic Expert” absolviert. 2013 gründete sie zusammen mit anderen “soziokratie-bewegten Menschen” das “Soziokratie Zentrum Österreich”, als Tochter-Organisation des Niederländischen Zentrums, und leitet seit 2015 die deutschsprachige Expertenausbildung für Soziokratie-BeraterInnen. Heute sind im “SoZeÖ” bereits acht PartnerInnen im BeraterInnen-Team unterwegs um Organisationen dabei zu begleiten, die SKM als Entscheidungsstruktur einzuführen.
Privat ist Barbara Strauch Mutter von drei Kindern und Großmutter von zwei Enkeln. Sie lebt seit 15 Jahren in wechselnden Wohngemeinschaften, ab 2010 im eigenen Großfamilienverband.
Barbara Strauch wurde interviewt von Jürgen Hamader/TAO:
Was ist die Grundidee der Soziokratie und wo nahm sie ihren Anfang?
Strauch: Das Wort „Soziokratie“ hat bereits Auguste Comté in der Mitte des 19. Jahrhunderts geprägt. Comté gilt auch als Begründer der Soziologie als Wissenschaft. Kees Boeke, Friedensaktivist am Beginn des 20. Jahrhunderts hat den Begriff, angeregt durch die „einmütige Beschlussfassung“ der Quäker (seine Frau stammte aus einer Quäkerfamilie) weiterentwickelt und in seiner, 1926 gegründeten Montessori-Schule „Werkplaats Kindergemeenschaap“ in den Niederlanden erprobt. Gerard Endenburg war dort Schüler von 1939 – 48. Hier erlebte Endenburg als Schüler, dass er bei der Gestaltung der allgemeinen Regeln und Lernbedingungen neben den Lehrern[1] gleichberechtigt in seiner Lerngruppe und im Schülerplenum mitentscheiden durfte; und das ohne Mehrheitsbildungen. Eine Entscheidung wurde solange nicht getroffen, bis gemeinsam eine Lösung gefunden war, die wirklich für alle passte.
In der Soziokratie geht es um nichts weniger als die Gleichwertigkeit aller Beteiligten bei der Beschlussfassung. „Beteiligte“ sind auch jene Menschen, die von den Auswirkungen der Entscheidungen betroffen sind. Kees Boeke nannte die Soziokratie im Titel seines Pamphlets, das er in der Tasche hatte als er gegen Kriegsende verhaftet wurde: „Sociocracy, Democracy as it might be.” Auf Deutsch: „Soziokratie, Demokratie wie sie sein sollte.“
Endenburg setzte diese Art des gemeinsamen Entscheidens dann in seiner eigenen Firma „Endenburg Elektrotechniek“ ab 1968 in Rotterdam fort und entwickelte in der Folge ein einfaches Regelwerk, das auch unter komplexen Bedingungen effektiv funktioniert. Er nannte dieses von ihm entwickelte, auf 4 Grundprinzipien beruhende System, „die Soziokratische KreisorganisationsMethode SKM“.
Was ist das Wesentliche an der Soziokratie, was sind die Grundprinzipien?
Strauch: Bei den „4 Basisregeln“ handelt es sich um Entscheidungsstrukturen, die sich auf Organisationen jeder Größe ausrollen lassen. Erst wenn alle diese vier Funktionen implementiert sind, hat die SKM den größten Effekt.
- Das Konsentprinzip[2] – „Kein schwerwiegender Einwand gegen diesen Vorschlag“[3]
- Das Kreisprinzip[4] – „Selbstorganisierte Kreise mit eigener Domäne“
- Die doppelte Koppelung[5] – „Neben der Leitung sitzt auch ein Delegierter im nächst höheren Kreis“
- Die offene Wahl[6] – „Rollen und Funktionen werden mit Konsent gewählt“.
Diese Regeln entstanden während der ersten Jahre des Experimentierens in Endenburgs eigener Firma, die innerhalb von wenigen Jahren von 40 Mitarbeitern auf 140 anwuchs. Gerard Endenburg entwickelte mit seinen ersten Helferinnen (eine davon war Annewiek Reijmer) aufgrund des großen Interesses in seiner Umgebung bald Methoden, um die SKM auch in anderen Organisationen einzuführen. Im Laufe der ersten 20 Jahre entstanden also rund um den Kern der 4 Basisregeln viele praktische Werkzeuge zur Implementierung partizipativer Entscheidungsstrukturen in Unternehmen. Die Entwicklung geht bis heute weiter. Es gibt seit 2006 zur Einführung der SKM in Organisationen einen Vier-Phasen-Prozess, (davor nur 2 Phasen), der sich auch heute bewährt. Als zertifizierte Soziokratie-Expertinnen, CSE – Certified Sociocratic Experts, begleiten wir Menschen in den Organisationen dabei, ihre ganz eigenen Zielkriterien, ihre ganz eigene Kreisstruktur und auch ihr eigenes Tempo zu entwerfen, mit dem sie Selbstorganisation mithilfe von Gleichwertigkeit bei der Beschlussfassung umsetzen können.
Hier ein typisches soziokratisches Organigramm:
Soziokratisches Organigramm
Man kann ein soziokratisches Organigramm auch mit übereinander gestapelten Dreiecken zeichnen. Kreise kommen Bottom-up-Organisationen entgegen, Dreiecke zeigen an, dass es auch eine Hierarchie der Kreise gibt. Allerdings geht es bei über- und untergeordneten Bereichen in der SKM immer darum, an einer übergeordneten Stelle für die Koordination der Bereiche zu sorgen. Mitbestimmung funktioniert in der SKM über die Delegierten auch von unten nach oben. Da die SKM nicht an der eigenen Organisationsgrenze aufhören soll, ist an der Spitze auch ein Kreis eingerichtet, der die Abstimmung mit den relevanten Umgebungsorganisationen ermöglicht, der Topkreis. Alle Kreise sind doppelt gekoppelt. Das heißt, immer entscheidet im nächsthöheren Kreis auch eine gewählte Delegierte aus dem eigenen Kreis mit. Und zwar bei allen Grundsatzentscheidungen, nicht nur bei denjenigen, die die eigene Abteilung betreffen.
Was sind typische Anlässe, warum Organisationen ernsthaft über die Anwendung der Soziokratie im Arbeitsalltag nachdenken?
Strauch: Am häufigsten erleben wir Anfragen für eine SKM-Einführung, wenn die Organisation wächst, was beispielsweise durch den fortschreitenden Erfolg eines Unternehmens der Fall sein kann. Nach der Pionierphase, wenn der Differenzierungsprozess voll im Gange ist und die Gründer immer mehr den Bedarf spüren, Abteilungen zu bilden und mehr Personen mit klaren Verantwortlichkeiten auszustatten, macht man sich oft auf die Suche nach organisationalen Ideen, die die Verantwortung auf alle verteilen sollen. Die Unternehmen haben oft 30 – 40 Mitarbeitende, wenn sie auf der Suche nach Unterstützung dann das Soziokratie Zentrum finden. Die Herausforderung ist dann, seitens der Führungskraft Macht abzugeben und Verantwortungsbereiche loszulassen und seitens der Mitarbeitenden, die Einladung zur Verantwortungsübernahme und Selbstorganisation anzunehmen. Da kann eine soziokratische Organisationsform definitiv viel helfen.
Unsere Kunden kommen zurzeit aber vor allem noch aus dem NGO- und zivilgesellschaftlichen Bereich. Hilfsorganisationen, Gemeinschaftliches Wohnen, Food-Coops und Freie Schulen suchen Organisationsformen, in denen keiner über die anderen bestimmt und gleichzeitig effektive Entscheidungen getroffen werden können. Dabei will man sich von unproduktiven Teambesprechungen oder stundenlangen Diskussionen in Plenarsitzungen verabschieden und findet in der SKM die Form, wo alle sehr effektiv in einer intelligenten Kreisstruktur mitentscheiden können. Das Ziel ist hier genau wie bei wirtschaftlichen Unternehmen, die Verantwortung auf viele zu verteilen und ein hohes Commitment für die Zielerreichung zu bekommen.
Erst seit wenigen Jahren gibt es in den Niederlanden neben unzähligen Unternehmen, Verbänden, Genossenschaften und Vereinen nun auch Gemeinden, die ihre Bürgerbeteiligungen mittels Elementen aus der SKM verbessern konnten. Ausgangslage war hier vor allem der entstandene „Spalt“ zwischen Politik und Bürgerinnen, der immer größer wurde. Manche Gemeinden kamen dadurch in schwierige Situationen. Auch in Amsterdam gibt es inzwischen Stadtteile, die soziokratische „Bauteile“ in ihre „soziale Architektur“ aufgenommen haben und damit das Vertrauen in die Politikerinnen wesentlich verbessern konnten. Ein erstes Interesse aus dem Bereich der „Lokalen Agenda 21″ ist auch in Österreich spürbar.
Wie kann man die Soziokratie „lernen“?
Strauch: Die Soziokratische KeisorganisationsMethode SKM wird mithilfe eines gut vorbereiteten und in mehreren Schritten umgesetzten Changemanagement-Prozesses von erfahrenen Soziokratie Experten (CSE – Certified Sociocratic Experts) in die Organisation eingeführt. Es dauert durchschnittlich ein bis zwei Jahre bis alle Beteiligten soweit mit der soziokratischen Art der Entscheidungsfindung vertraut sind, dass es auch ohne externe Begleitung gut läuft. Große Organisationen bis zu mehreren hundert Mitarbeiterinnen dürfen sich auch fünf Jahre Zeit lassen.
Hier ein Einblick in den „Vier-Phasen-Umsetzungsprozess“:
Phase 1 „Kennenlernen“
- Vorstellung der SKM
- Projektgruppe für die Vorbereitung der Implementierung
- Entwerfen der Entscheidungsstruktur
- Entwerfen des Umsetzungsplanes
Phase 2 „Einführung“
- Schulung und Begleitung der Pilotkreise
- Schulung und Begleitung der soziokratischen Rollen
- Schulung der übrigen Kreise und internen Soziokratie Trainer
Phase 3 „Integrieren“
- Interne Intervision der soziokratischen Rollen
- Externe Intervision der soziokratischen Rollen
Phase 4 „Entwickeln“
- Audit
- Juristische Sicherung
- Entwicklungsplan
Das ganze Papier senden wir auf Anfrage gerne zu.
Jeder Schritt wird gemeinsam mit der Organisation geplant (leiten), umgesetzt (tun) und evaluiert (messen), bevor der nächste Schritt gesetzt wird. „Leiten, tun und messen“ sind die allgemein gebräuchlichen Begriffe für die „dynamische Steuerung“. Welche Elemente der SKM (zuerst) umgesetzt werden, wer damit beginnt, was gemessen wird, wie die (erste) Kreisstruktur aussieht, welche Ziele man damit erreichen will, ab wann man mit internen Ressourcen weitermacht, etc., bestimmen immer die Menschen in der Organisation selbst.
Will man selbst Prozessbegleiterin für Soziokratie werden, dann gibt es dafür die Ausbildung als CSE – Certified Sociocratic Expert, die zwischen 2 und 4 Jahren dauert, abhängig davon, wieviel eigene Soziokratie-Erfahrung man mitbringt und wie rasch man vorwärtskommen will. Wir stellen gerne detaillierte Informationen zu den verschiedenen Ausbildungswegen zur Verfügung.
Was sind die kritischen Erfolgsfaktoren bei der Einführung?
Strauch: Grundsätzlich werden am Beginn der Implementierung die Erfolgsfaktoren (besonders auch die kritischen) von der Organisation selbst festgelegt. Jedes „Bedenken“ wird in ein „zu erreichendes Ziel“ umformuliert. Das kann von Mitarbeiterzufriedenheit über effektivere Besprechungen, bis zu Umsatzzielen usw. alles sein, was es zu verbessern gibt. Da wir mithilfe der zu erwartenden Potentialentfaltung in allen Kreisen der Organisation mit positiven Auswirkungen der SKM-Einführung rechnen, zensieren wir diese gewünschten Messkriterien nicht.
Ein kritischer Erfolgsfaktor, den die soziokratischen Prozessbegleiterinnen (CSE) gewöhnlich selbst im Auge behalten, ist die Korrigierbarkeit der Führungskräfte durch den Kreis. Denn, „Die Soziokratie kann nur top-down eingeführt werden!“ Dieser Leitsatz ist leicht verstehbar, wenn man sich vor Augen führt, dass nur, wer die Macht hat, sie auch mit anderen teilen kann. Die SKM-Einführung steht und fällt mit der Fähigkeit der Leitung, sich von der linearen Führung zu verabschieden und von nun an die Grundsatzentscheidungen im Kreis zu treffen. Das heißt, sich von allen Mitwirkenden innerhalb der eigenen Abteilung leiten und korrigieren zu lassen. Das Führungsverständnis in der SKM ist emanzipatorisch geprägt. Manager, die immer schon „führen als helfen“ verstanden haben und sich ungern als „Vorgesetzte“ betiteln ließen, werden viel Freude mit der SKM haben.
Umgekehrt müssen auch bislang „Untergebene“ ihre Komfortzone verlassen und lernen, sich als Mitgestalter und damit Mitverantwortliche ihrer eigenen Firma, ihrer eigenen Organisation zu verstehen. Im Implementierungsprozess unterstützen wir diese Lernschritte strukturell mit den Schulungen der Kreise und den jeweiligen Intervisionsgruppen für die Rollen sowie Coaching für die Leitung, wo es gebraucht wird.
Was sagen Betroffene (Führungskräfte, Mitarbeitende, „Kundinnen“, …) typischerweise, nachdem die Soziokratie eingeführt wurde?
Strauch: „Was sagen sie typischerweise?“ Das ist eine gute Frage, denn wir hören sehr oft ähnlich lautende Statements. Es macht Freude Menschen zu hören, die die Auswirkungen von soziokratischen Kreisstrukturen und Konsent-Entscheidungen erleben dürfen.
„Unsere Meetings sind Energie-Tankstellen! Man kommt nach einem anstrengenden Tag nachhause und denkt sich: „Oje, heute noch eine Sitzung im Wohnprojekt!“. Und dann geht man nach zwei Stunden von der Sitzung mit guter Energie weg und fühlt sich erfrischter als man hingekommen ist. Das kommt von der Art, wie wir miteinander umgehen. Jedem wird zugehört, wir bringen gemeinsam viel weiter und freuen uns über unsere kreativen Ergebnisse.“
„Es lebe die Soziokratie!“; so ein Ausruf von einer begeisterten SKM-Anwenderin: „Ein kurzer Einblick in meinen Schulalltag: Die gesamte LehrerInnenschaft sitzt beim pädagogischen Nachmittag. In der letzten Stunde werden noch schnell die leichten Häppchen behandelt: Probleme mit der Hausordnung, die schlechte Leistung der Matura 2016 und die Schwierigkeit, Mobbing zu erkennen. Meistens mit Worten wie ‚das ist schlecht‘ und ‚wir müssen endlich‘ und ‚muss noch geklärt und definiert werden‘. So werden wir dann heimgeschickt. Da blutet mein soziokratie-begeistertes Herz. Also falls es Zeit und Energie eurerseits gibt, das Projekt Soziokratie an Schulen anzugehen: Hier! Ich! Bitte! Unbedingt. In diesem Sinne: Danke für alles, was wir durch euch gelernt haben. So lebt es sich besser.“
Viele Menschen sagen, dass sie sich eine andere als die soziokratische Umgangsweise bei Meetings gar nicht mehr vorstellen können. „Es hat sich Freude eingestellt“. „Das Zusammenarbeiten macht plötzlich Spaß, es ist effektiv und wir bringen was weiter.“ Die Menschen fühlen sich zugehörig, ernst genommen, beteiligt und mitverantwortlich. „Wir ziehen jetzt an einem Strang! Es geht jetzt darum, was wir gemeinsam erreichen wollen, und nicht was Einzelne durchdrücken möchten.“ „Wir entwickeln uns einfach ganz anders weiter, wenn wir alle im Kreis die ungeschminkte Meinung sagen. Dass wir es auf so wertschätzende Art tun, deshalb geht es jetzt leichter als zuvor.“ „Ich freu mich heute noch wie ein Kind, wenn ich wieder einmal meine Meinung geändert habe. Obwohl ich das jetzt schon so lange kenne, begeistert es mich jedes Mal wieder, wenn ich in der Runde was dazugelernt habe und das auch mitteilen kann!“ Und auch die Möglichkeit einen Delegierten in den nächsthöheren Kreis wählen zu können, erleben viele Menschen als sehr erleichternd. Besonders auch Führungskräfte fühlen sich unterstützt und entlastet. „Wir kreisen nicht mehr allein um unsere Zahlen, sondern berücksichtigen jetzt auch, wie es den MitarbeiterInnen in den Abteilungen damit geht.“ „Es war nicht leicht für mich, da oben meine Meinung zu sagen, aber mit den moderierten Kreisrunden habe ich mich bald ganz gut ausdrücken können und mich dann auch ernstgenommen gefühlt.“ „Ich hätte mir nie gedacht, dass wir diese Spannungen aushalten werden können, und dann auch noch konstruktive Lösungen daraus generieren! Aber wir haben es wie immer geschafft, dank der soziokratischen Moderation und Klarheit bei den Zuständigkeiten!“
Eine Mitarbeiterin in einem Schmuck-Atelier in Hamburg, 2015: “Früher taten wir die Dinge, weil wir sie immer so gemacht haben, aber jetzt tun wir sie, weil wir uns abgesprochen haben. Daher fühlt sich jeder unabhängiger.” Sie erläutert, was das für sie in der Praxis bedeutet. “Ich mache Werbung. Jetzt weiß ich genau, was kosten die Anzeigen und welches sind die Kriterien für Magazine. Zuvor besprach ich alles aus Unsicherheit mit Thomas (dem Chef). Immer noch kann ich Fragen an ihn stellen. Aber ich fühle mich jetzt viel sicherer, auch meine eigenen Entscheidungen zu treffen. Das tue ich, und es funktioniert besser.“ …. „Wir fühlen uns jetzt unwahrscheinlich verbunden mit den Entscheidungen, die wir gemeinsam treffen. Zu Weihnachten haben wir uns entschieden, einiges von unserem Weihnachtsgeld an die Gold-Genossenschaft zu geben, mit der wir zusammenarbeiten. Das war nicht das Gefühl, eine gute Tat zu tun, sondern als Investition in unsere langfristige Beziehung mit diesen Lieferanten. Die Runden sind nicht mehr wegzudenken.”
Was sind typische praktische Auswirkungen der Soziokratie auf verschiedenen Ebenen einer Organisation? Die Zusammenarbeit in den Organisationen? Die Ergebnisse der Organisationen? etc.?
Strauch: Viele der Auswirkungen sind schon oben zu lesen. Pieter van der Meché, mit seinen mehr als 20 Jahren Erfahrung mit der Implementierung der SKM in Organisationen, sagt: „Die Erfahrung hat gezeigt, dass erst durch Mitentscheiden auch Mitverantwortung entsteht.“
Die wichtigste praktische Auswirkung ist das gemeinsame „Arbeiten im Kreis“. Als selbstorganisiertes Team fühlen sich die Kreismitglieder, wie der Name schon sagt, als Mitglieder in einem Kreis, der ein gemeinsames Ziel hat. „Ich bin wichtig, ich gehöre dazu. Mein Beitrag ist bedeutend, ich habe einen Auftrag vom Kreis und kenne mich damit aus. Meine Meinung hilft mit, dass wir gute Entscheidungen treffen und vorwärts kommen.“ Dabei kann man beobachten, wie das Verantwortungsgefühl aller Beteiligten stärker wird. Man hilft sich gegenseitig, freut sich über den gemeinsamen Erfolg und steht auch hinter den anderen Abteilungen, weil man dasselbe Vertrauen, das sich im eigenen Bereich eingestellt hat, auch in die anderen hat. Weil der Chef korrigierbar ist, lernen auch alle anderen die Freude kennen, die es macht, etwas dazugelernt zu haben und seine Meinung zu ändern. Was das für das Ergebnis bedeutet liegt auf der Hand: Es wird effektiver gearbeitet. Die geschätzten 30% der Zeit, die man früher in die Kompensation von Unzufriedenheit investieren musste (von Ganggesprächen, über Klüngelbildung, Konflikte, Gegnerschaft, bis Mobbing) sind jetzt für ein konstruktives Miteinander verfügbar. Alle Themen sind willkommen, um in den regelmäßigen Kreisversammlungen gemeinsam Lösungen zu finden. Das kann am Beginn einiges zum Aufarbeiten geben, aber dann läuft es meistens gut und es kommt Freude bei der Arbeit auf. Es geht dabei nicht um Gewinnmaximierung. Es geht um den gemeinsamen Erfolg und das Erreichen der gemeinsamen Ziele.
Trotzdem gibt es auch immer wieder Messungen von bis zu 30% Umsatzsteigerung aufgrund der Einführung der SKM in einem Unternehmen. Bei so viel Transparenz und Offenheit geht es früher oder später dann auch ums Geld. Darum tun sich GWÖ-Unternehmen leichter mit der SKM, weil sie über die Werte „Mitbestimmung“ und „Transparenz“ bereits nachgedacht haben.
Endenburg hat in seiner soziokratischen Firma schon in den 1970er-Jahren eingeführt, dass der Gewinn im Unternehmen allen gehört und nicht allein für die Kapitaleigner erwirtschaftet wird. Bei Endenburgs „Soziokratischem Entlohnungsmodell“ gibt es eine „ExistenzMöglichkeitsGarantie – EMG“, die jeder und jedem Mitarbeitenden zusteht. Erst der darüber hinaus erwirtschaftete Gewinn wird im Konsent auf alle Mitwirkenden, zu denen auch die Kapitaleigner gehören, aufgeteilt. Damit die Kapitaleignerinnen in die Beschlussfassung eingebunden sind, schlägt Endenburg vor, ihnen einen doppelt gekoppelten Platz im „Topkreis“ zu geben. Der Topkreis hat in der SKM eine ähnliche Funktion wie ein Aufsichtsrat. Er hütet das Unternehmensziel und erschafft eine Verbindung zur relevanten Umgebung der Organisation. Auch im Topkreis werden Entscheidungen im Beisein der Delegierten aus dem Allgemeinen Kreis und im soziokratischen Konsent getroffen. Somit ist eine „Macht-über-Position“ auch von der Unternehmensspitze her ausgeschlossen.
Welche strukturellen Rückenstützen braucht es, damit die Idee der Soziokratie in einer Organisationen am Leben bleiben kann?
Strauch: Mit dieser Frage hat sich der niederländische Netzwerkkreis der Topkreismitglieder zwischen 2000 und 2004 intensiv beschäftigt. Es hat sich gezeigt, dass viele Implementierungen nach etwa 5 Jahren im Sande verlaufen. Das hatte mehrere Gründe. Einer davon war, dass niemand sich verantwortlich fühlte neue Mitarbeitende in die SKM einzuführen. Auch kam es vor, dass frühere Angewohnheiten von Chefseite durch die Hintertür wieder hereinkamen. Besonders wenn das Unternehmen seinen Besitzer wechselte, konnte man damit rechnen, dass die neuen Unternehmenseigner mit einem Federstrich alle Kreisversammlungen abschafften. Und weg war die ganze Soziokratie.
Wie oben schon erwähnt, entwickelten die damaligen Topkreismitglieder und Teilnehmenden am Netzwerkkreis, unter Leitung von Annewiek Reijmer damals Lösungen, um das „Zurückfließen des Wassers ins alte Flussbett“ zu verhindern. Es entstanden die Phasen 3 und 4 und damit der 4-Phasen-Umsetzungsprozess. Dieser enthält nun Intervisionsgruppen für die Rollen „Kreisleitung“ und „Delegierte“, die Stabstelle für die SKM mit der Domäne, die Soziokratie zu warten. Dazu gehören die Wartung des Moderatoren-Pools, die Schulung neuer Mitarbeitender und die kontinuierliche Weiterentwicklung der soziokratischen Kreisstruktur. Die Stabstelle SKM ist angebunden an den Allgemeinen Kreis. Darüber hinaus wird die Soziokratie in der Organisation durch einen zusätzlichen Platz im Topkreis gesichert. Dort sollte eine externe Soziokratieexpertin sitzen, die zuständig dafür ist, die Geschäftsführung in Sachen der SKM zu coachen. Durch die Entwicklung der Soziokratie-Norm 1001-0 „Die Soziokratische Methode – Muster für die Anwendung, Teil 1: Das Produzieren von Gleichwertigkeit bei der Beschlussfassung“ entstand auch eine Möglichkeit für ein soziokratisches Audit, das die interne Stabstelle dabei unterstützt, mithilfe einer KPI-Liste die nachhaltige Anwendung der SKM zu messen.
Was ist der Unterschied zu anderen Methoden?
Strauch: Fündig wird man auf der Suche nach Methoden für Selbstorganisation im Bereich der IT-Entwicklung. „Srcum“und „Agile Teams“ sind seit Jahren bekannt. Interessanterweise zieht aber jetzt auch bei sogenannten „Agilen Organisationen“ die Soziokratie ein, denn die Selbstorganisation im „agilen“ IT-Bereich endete bisher beim Scrum-Muster. Es fehlt darüber hinaus an Feedbackschleifen hinauf zur Führungsebene. Darum wird es bald ein Buch von John Buck (Divisionsleiter für USA in TSG – The Sociocracy Group, von der wir als SoZeÖ auch ein Teil sind) zusammen mit Jutta Eckstein (Deutsche Expertin für Agile Organisation) geben, um die SKM in diesem Bereich zu etablieren. Mit Selbstorganisation beschäftigte sich auch Stafford Beer (1926-2002). Beer gilt als Begründer der Managementkybernetik und seine Bücher waren auch Endenburg bekannt. Die Kybernetik und die Systemtheorie sind zwei Quellen der SKM. Stafford Beer entwickelte das „Viable System Model“ – VSM, übersetzt als „Modell lebensfähiger Systeme“. Einer unserer Business-Kunden hat uns mit der Implementierung der SKM beauftragt, um damit das VSM umzusetzen. Auch Niels Pfläging hat Bedeutung wenn es um Selbstorganisation geht. Er ist in Deutschland bekannt als der Mann der „Beyond budgeting“ vorgestellt hat. Planen und Finanzziele zu setzen, macht für Pfläging heute keinen Sinn mehr. „Wer heute erfolgreich sein will“, sagt Pfläging 2010 im Interview von Brandeins, „muss eigentlich hochflexibel reagieren können, um sich an die sich schnell verändernden Bedingungen der Märkte anpassen zu können.“ Viele kennen das „Pfirsich-Modell“ einer sich selbst organisierenden Betriebseinheit, oder den „Beyond Budgeting Round Table“, BBRT, der ebenfalls mit Pfläging in Zusammenhang gebracht wird. Die BB-Prinzipien ähneln den Grundprinzipien der SKM außerordentlich.
Ich nenne die beiden Entwickler exemplarisch für eine ganze Bewegung, die sich aufgemacht hat, neue Paradigmen für eine neue Zeit zu erschaffen. Viele Beispiele von Organisationen der Zukunft gibt es auch im Buch von Frederic Laloux„Reinventing Organizations“.
Alle diese Suchenden haben schon viel gefunden, was ihnen Ideen gibt und eine Richtung weisen kann, aber niemand von diesen Vordenkern hat einen Weg beschrieben, wie eine Organisation diesen Wandel vollbringen kann. Was muss eine Firmenleitung tun, um aus ihrem Pyramiden-Modell eine Organisation aus sich selbst organisierenden Teilen zu machen? Die einzige Antwort die ich (und wie ich, auch viele andere Suchende) jemals auf die Frage nach dem „Wie kommen wir dorthin?“ gefunden habe, war der Implementierungsprozess zur Einführung einer soziokratischen Kreisstruktur von Gerard Endenburg. Der Unterschied liegt nicht in den Prinzipien oder dem Zielbild. In den Prinzipien und im Ziel sind sich die Vordenker unserer selbstorganisierten Wissensgesellschaft mit Endenburg einig. Der Unterschied liegt im Weg zum Ziel. Diesen Weg zum Ziel hat Endenburg aus seiner eigenen Firmenumgestaltung in seinem Sociocratisch Centrum Nederland (re-)konstruiert, evaluiert, für andere weiterentwickelt, erneut erprobt, verbessert, wieder erprobt und wieder weiterentwickelt.
Sein Ergebnis ist die SKM und ihr Implementierungsprozess. Ein begleiteter Prozess, der mit der Organisation gemeinsam einen Weg kreiert, Selbstorganisation mithilfe von Gleichwertigkeit bei der Beschlussfassung (erzeugt durch die 4 Basisregeln) im ganz eigenen Stil und mit den eigenen Möglichkeiten umzusetzen.
Allerdings gibt es Menschen, die die SKM kennengelernt haben, ohne den Implementierungsprozess zu studieren. Diese Personen haben die SKM als Basis für ihre eigenen Beratungsgeschäfte verwendet. Brian Robertson hat die 4 Basisregeln, die er als „Sociocracy“ von John Buck gelernt hat, „Holacracy“ genannt und versucht, sie in seinem Sinne zu „verbessern“. Dabei hat er aus der holarchischen Hierarchie[7] von doppelt gekoppelten, sich selbstorganisierenden Kreisen in der SKM, eine Dominanz-Hierarchie gemacht, indem er den Leitern von Kreisen das Recht gibt, die Mitglieder des Kreises aufzunehmen und zu entlassen. Diese Regel in der „Holacracy“ belässt die Führungskräfte in ihrer „Macht-über-Position“. Da helfen dann auch die Rep-Links (engl. Bezeichnung für Delegierte) nicht mehr viel, wenn diese kein Mitentscheidungsrecht haben, sobald es um die Wahl der Führungskräfte und Mitarbeitenden geht. In der SKM bestimmt der Kreis als „Holon“, wer gebraucht wird. Kein Einzelner hat hier die Macht, Grundsätze, die alle betreffen, alleine zu bestimmen. Allerdings muss man Brian Robertson zugute halten, dass er aus der SKM ein Modell gemacht hat, das aufgrund seiner noch sehr starken, hierarchischen Ausrichtung für viele Unternehmen leichter umzusetzen erscheint als die SKM selbst.
Auch James Priest war, wie Brian Robertson, ein Schüler von John Buck (TSG-Divisionsleiter und Endenburgs Freund seit 1986), bevor er begonnen hat, Sociocracy 3.0 zu verbreiten. James Priest hat ebenfalls den Lernweg und die Kompetenz von CSE – Certified Sociocratic Experts aus der Schule von Gerard Endenburg nicht kennengelernt. Darum meint er einen Gegensatz zu der von ihm so genannten „Classical Sociocracy“ setzen zu müssen, der er zu Unrecht ein Flair von alt und unflexibel zuspricht. James Priest wendet sich mit seiner S 3.0 mehr an die Gemeinschaftsbewegung und „Opensource-Menschen“. Inhaltlich verzichtet Priest auf den Topkreis, weil er Hierarchien nicht gut findet, und verknüpft lieber die Allgemeinen Kreise mit der Umgebung, was aus der Sicht der SKM zu ineffizient ist. In der Schule von Endenburg hat der Topkreis die Funktion, die Visionen der Organisationen miteinander zu verbinden. Das Hauptgeschäft dient der Vision und man verbindet sich darum auf der Topkreis-Ebene mit anderen, um von dort aus gegenseitig mitzusteuern.
Immer wieder werden auch Methoden wie „Systemisches Konsensieren“ oder „Art of Hosting“ mit der SKM verglichen.
Das SK-Prinzip – “Systemisches Konsensieren”, von Erich Visotschnig und Siegfried Schrotta, ist eine Entscheidungsmethode und keine Organisationsmethode, wie die SKM. Beschlüsse werden beim Systemischen Konsensieren mehrheitlich durch das Zählen von Widerstandspunkten in einer Gruppe getroffen. Die Widerstandpunkte vergibt jede Person für mehrere, gleichzeitig eingereichte Vorschläge. 2011 hat Erich Visotschnig die SKM (ich hatte ihn zu einem meiner Workshops eingeladen) als „Kreis-Methode“ kennengelernt. Die weitere Entwicklung im SK-Prinzip enthielt dann auch das Reden im Kreis, das zum „vertieften“ Konsensieren[8] eingesetzt wird. Allerdings ist das „Systemische Konsensieren“ bis heute keine Management-Methode, sondern eine Abstimmungsmöglichkeit zur Minimierung von Konflikten bei wichtigen Entscheidungen in Organisationen. Der wichtigste Unterschied zwischen soziokratischer Entscheidungsfindung (Konsent-Prinzip) und dem SK-Prinzip:
Mit dem Konsent-Prinzip werden Lösungen von dem dazu beauftragten Kreis mithilfe eines kreativen Kreisprozesses gemeinsam kreiert. Eventuell beauftragt man im Vorfeld einen extra dafür zusammengestellten Hilfskreis, einen Vorschlag auszuarbeiten, der dann mit den üblichen Rederunden (Bildformung, Meinungsbildung, Konsentformung) zu einem Beschluss geformt wird. Beim SK-Prinzip müssen im Vorfeld mehrere Vorschläge ausgearbeitet werden, damit dann mit den genannten Widerstandpunkten, der von allen am wenigsten abgelehnte Vorschlag entschieden werden kann.
Ein Kenner beider Methoden sagte einmal; „Wer viel Zeit hat soll systemisch konsensieren. Wer effektiv arbeiten will, soll die SKM verwenden.“ Trotzdem gibt es auch den umgekehrten Fall, dass das SK-Prinzip schneller geht. Da nämlich, wo viele hunderte Menschen, die sich gegenseitig nicht kennen, eine Sache abstimmen sollen, wie z.B. bei einer Bundespräsidenten-Wahl. Hier empfehle ich das SK-Prinzip unbedingt. Es bringt den am meisten akzeptierten Kandidaten an die Spitze, und nicht denjenigen, der manchmal von 50% der Bürgerinnen abgelehnt wurde.
Art of Hosting und andere partizipative Methoden: Alle bisher bekannten partizipativen Methoden, wie WorldCafe, OpenSpace, Dynamic Facilitation, Art of Hosting, Fishbowl, DragonDreaming, etc. fehlt das Momentum der Mitentscheidung. Sie bieten Räume zum Austausch, oft auch zur Einigung innerhalb eines laufenden Prozesses mit Konsens, jedoch sorgen diese Methoden weder für klare Entscheidungen, noch für eine Struktur der Umsetzung. Sie enden bis jetzt immer an der Tür von Führungskräften und Politikerinnen, die trotz vielfältigen Vordenkens ihrer Angestellten oder der Gemeindebürger, ganz alleine in ihren Führungsgremien und Gemeinderäten entscheiden dürfen, was umgesetzt wird und was nicht.
Wenn Beteiligungsprozesse soziokratisch sein sollen, dann sitzen die Bürgermeisterin und am besten der ganze Gemeinderat zusammen mit Bürgern im Bürgerinnenrat (Dynamic Facilitation) oder im Art of Hosting-Prozess. Wir begleiten mit der SKM nur Prozesse, in denen die Auftraggebenden selbst den Prozess mitmachen und auch selbst entscheidungsbefugt sind. Die Macht kann nur von denen geteilt werden, die sie haben. Darum müssen auch CEOs und Bürgermeister geschult werden in der Art, wie in der SKM wirklich gemeinsam Entscheidungen getroffen werden.
Was sind so etwas wie „unerwünschte Nebenwirkungen“ der Soziokratie?
Strauch: Das gefährlichste an der SKM ist der Spaß den es macht, freudvoll mit anderen zusammenzuarbeiten. Wenn ich das Vertrauen der anderen genieße und merke, dass ich ihre Wertschätzung habe und dass sie mich unterstützen werden, dann sage ich schneller „ja“ zu einer Rolle, auch wenn meine Zeitressourcen womöglich schon knapp sind. Aber nach und nach lernen alle im Kreis aufeinander zu achten und es kommt immer öfter vor, dass es einen schwerwiegenden Einwand von Kollegen gegen eine Wahl gibt, um damit die „schon wieder“ gewählte Kollegin vor einem Burn-Out zu schützen.
„Unerwünschte Nebenwirkungen“ können aber auch jene Menschen treffen, die bisher auf „ungeliebten“ Posten gesessen sind. Wer sich in seiner Rolle bisher unbeliebt gemacht hat, muss jetzt mit Feedback rechnen, das sich die Teammitglieder bisher aus Angst, ihren Arbeitsplatz zu verlieren, verkniffen haben. Im besten Fall freut sich die betreffende Person über das Feedback und alle merken, dass es nur an den hierarchischen Strukturen gelegen war und nicht an der Persönlichkeit des Menschen. Wenn das der Fall ist, dann lassen sich Altlasten gut aufarbeiten und man kann sich ab nun mithilfe der offenen Kommunikation besser verstehen lernen.
Wir können bei dem Wunsch, die Mitarbeitenden in die Entscheidungen einzubeziehen, beispielsweise aber auch entdecken, dass die Führung viel zu wenig Vertrauen in die fachliche Kompetenz der Leute hat und sich auch nicht mittels der Kreisrunden die benötigte Kompetenz einstellt. Dann muss die Verantwortung eben bei dieser Führungskraft bleiben und wir starten besser keine soziokratische Organisationsentwicklung.
Manchmal entdeckt man erst, wenn der Allgemeine Kreis schon gestartet wurde, dass die Führungskräfte trotzdem alleine entscheiden. Das führt gewöhnlich dazu, dass die ganze Mitarbeiterschaft keine Lust mehr hat, in die Kreisversammlungen zu kommen. Führungskräfte, die entgegen ihres bereits gegebenen Konsents, dann doch etwas anders tun, verlieren rasch wieder das Vertrauen ihrer Leute. Wir als Soziokratie-Beraterinnen coachen dann die Leitung und versuchen ihr beim Umdenken zu helfen. Wenn das nichts hilft, raten wir der Organisation, wieder zur linearen Struktur zurückzukehren, vor allem um Zeit zu sparen.
Wenn es aber seitens der Führungskräfte passt, kenne ich ehrlich gesagt keine negativen Rückmeldungen von Organisationen bei der Einführung der SKM. Manchmal kommt es vor, dass es keine gute Qualität bei der Implementierung gab. Es gibt einige selbsternannte „Experten“ ohne Ausbildung, die z.B. die Phase 3 und 4 gar nicht kennen und keine interne SKM-Stelle einführen, oder die Organisation bald wieder sich selbst überlassen. Dann bleibt man auf halber Strecke mit Problemen und offenen Fragen hängen und denkt sich: „Das lassen wir lieber, das hilft uns jetzt nicht weiter.“ Ich habe es auch schon erlebt, dass sich Kreise mit der SKM vergaloppiert haben. Sie wendeten die Entscheidungsmethode dort an, wo es gar nichts zu entscheiden gab. Das nenne ich „Versoziokratisierung“, wenn man voller Begeisterung übers Ziel schießt.
Die SKM ist ein dynamisches Organisationsmodell, um gemeinsam effektive Entscheidungen im Sinne der Ziele zu treffen und die gemeinsam getroffenen Entscheidungen effizient umzusetzen. Für z.B. einen fachlichen Austausch im Sinne von Intervision, würde ich andere Methoden verwenden.
Wie verträgt sich die Soziokratie mit üblichen Intentionen in marktwirtschaftlich gewinnorientierten („kapitalistisch orientierten“) Organisationen?
Strauch: Nachdem sich Mitverantwortung nur über gleichwertige Mitbestimmung einstellt und Transparenz dafür die Voraussetzung ist, kommen natürlich auch bislang tabuisierte Themen auf die Tagesordnung. Wenn Offenheit und Mitsprache einkehren, endet das gewöhnlich nicht bei den Ressourcen. Auch Geld ist eine Ressource. Wir steuern mit Geld den Betrieb einer Organisation. Wo wir mehr brauchen, können wir auch mithilfe der soziokratischen Entscheidungsmittel mehr beschließen. In einem Allgemeinen Kreis werden auch die Geldmittel auf die Abteilungen verteilt, und zwar im Konsent der Führungskräfte mit ihren Delegierten aus den Abteilungen. Diese Prozesse können herausfordernd sein. Darum üben wir die Mittelverteilung exemplarisch auch gerne in den Seminaren. Durch die Klarheit in Geldangelegenheiten entsteht die Möglichkeit, dass jeder Kreis sein eigenes Budget verwalten kann. Das ermöglicht ihm, sich selbst besser organisieren zu können. Wenn die Organisation wirklich bis zur Spitze soziokratisch geworden ist, dann findet die Gewinnverteilung im Topkreis statt. Dort sitzen, ähnlich einem Aufsichtsrat, externe Expertinnen und helfen der Organisation, die relevanten finanziellen, rechtlichen und gesellschaftlichen Themen bei der Steuerung mit zu berücksichtigen. Im soziokratischen Topkreis sitzen neben der Geschäftsleitung auch ein bis zwei Delegierte aus dem Allgemeinen Kreis und bestimmen mit.
An dieser Stelle mag ich auch erwähnen, dass die SKM praktisch in jeder Abteilung umgesetzt werden kann, deren Leitung soziokratisch arbeiten will, und, wenn diese Organisationsform von der übergeordneten Leitung geduldet wird. Das ist schon vielen emanzipatorisch veranlagten Führungskräften gelungen. Jeder kann da, wo er/sie Chef ist, einfach damit anfangen, in der Teambesprechung alle nach ihrem Konsent für die Entscheidung zu fragen. Man fragt: „Hast du einen schwerwiegenden Einwand, es so zu machen?“ Und solange jemand einen schweren Einwand hat, wird noch weiter nach einer besseren Lösung gesucht. Das allein kann ein neues Klima in der Zusammenarbeit erzeugen. Ich rate aber allen, die das ausprobieren wollen, die ersten beiden Module der Soziokratie-Ausbildung zu besuchen und dann ihre Erfahrungen in den angebotenen Lernkreisen für Gesprächsleiter und Teamleiterinnen zu reflektieren. Wir bilden im Soziokratie Zentrum auch „Soziokratische Gesprächsleiterinnen“ aus. Gerade dann nämlich, wenn Führungskräfte selbst moderieren, kann das auch kontraproduktiv sein, weil dann die Macht der Leitung und die Macht der Gesprächsleitung kumuliert. Da macht es Sinn, die Rolle der Gesprächsleitung an ein anderes Kreismitglied – in offener Wahl – zu übertragen.
Wie verträgt sich die Soziokratie mit dem Eigentumsrecht?
Strauch: Die Frage ist, wo platziert man in der SKM die Genossenschafterinnen? Wo die Gesellschafterversammlung, die Mitgliederversammlung, oder die Aktionärsversammlung? Rein rechtlich müssen diese an der Spitze der Steuerung stehen, denn die Eigentümer müssen auch über den Verkauf und über die Kapitalverwendung entscheiden können. Das ist auch der Grund, warum die SKM nur Top-down eingeführt werden kann. Denn die, welche die Macht haben, müssen sich selbst entscheiden, ihre Macht zu teilen. Diese Macht bleibt dann nur so lange geteilt, solange die Eigentümer das möchten. Das Recht ist auf ihrer Seite, solange wir gesellschaftlich kein „Soziokratie-Recht“ eingeführt haben und „Soziokratie-Gesellschaften[9]“ gründen können.
Wenn sich die Eigentümer entschieden haben, eine soziokratische Organisationsstruktur einzuführen, dann kann die Eigentümerversammlung, die Genossenschafter-Versammlung oder die Mitgliederversammlung doppelt gekoppelt an den Topkreis angebunden werden. Die Eigentümer haben als eigener Kreis ihre eigene, gut beschriebene Domäne, entscheiden gemeinsam im Konsent, und wenn es sehr viele sind, dann haben sie auch eine, ev. nach Regionen aufgefächerte Kreisstruktur. Ihre Leitung und die Delegierten werden im Topkreis keinen Konsent geben, wenn ihre Interessen dadurch gefährdet werden. Sie verlieren keine Macht, denn sie sind gleichberechtigt mit den Mitarbeitenden des Betriebes. Die Eigentümer müssen sich in der SKM nicht dem Betrieb „unterwerfen“, sondern sie müssen den Mitarbeitenden nur zuerst zuhören und sich dann erst entscheiden, ob sie ihren Konsent geben oder nicht. Auch die arbeitenden Teilnehmerinnen eines Unternehmens haben ihre Geschäftsleitung und 1-2 Delegierte im Topkreis sitzen, die auch bei allen Punkten, die im Topkreis auf die Agenda kommen, konsentberechtigt sind. Durch die soziokratische Sitzungsgestaltung erreicht man gewöhnlich auch im Topkreis, gemeinsam mit Eigentümerinnen und Angestellten, mithilfe von zwei Rederunden einen Konsent. Auch im Topkreis von Endenburg Elektrotechniek haben die Delegierten 1976, als die Schiffsindustrie unter dem Druck japanischer Schiffsbauer zusammenbrach, eingesehen, dass man nun 30% der Mitarbeitenden kündigen müsse. Allerdings lag aufgrund der Initiative eines Produktionsmitarbeiters innerhalb von wenigen Tagen mittels doppelter Koppelung eine andere Idee auf dem Tisch des Topkreises. Der junge Mitarbeiter hatte im Konsent durchgesetzt, dass die Kollegen nicht entlassen werden, sondern mit Anzug und Krawatte 2 Monate lang die anderen Produkte des Unternehmens bewerben sollten. Das ist tatsächlich gelungen. Die Produktion wurde umgestellt und alle behielten ihre Jobs.
Endenburg war auch klar, dass er als Eigentümer seiner Firma Endenburg Elektrotechniek jederzeit auch ohne Konsent die Firma verkaufen könnte. Und dann würde wieder das Recht des Kapitalismus gelten und nicht die Soziokratie. Auf seiner Suche nach einer nachhaltigen Lösung fand er das Stiftungsrecht. Er gründete eine Stiftung mit dem Zweck, dass die Firma der Stiftung gehören solle. Der Topkreis des Unternehmens wurde in Personalunion mit dem Stiftungsrat verbunden. Dann verkaufte Endenburg das Unternehmen an die Stiftung. So gehört das Unternehmen Endenburg Elektrotechniek also auch heute noch sich selbst und hat in seinem Gesellschaftervertrag und in der Stiftungsurkunde als Entscheidungsmethode die SKM verankert.
Schaffen wir mit der SKM den Kapitalismus also nicht ab?
Strauch: Spannend finde ich auch die Haltung in der Soziokratie, dass wir den Kapitalismus nicht abschaffen müssen um soziokratisch handeln zu können. Die Soziokratie ergänzt die kapitalistische Grundhaltung einfach nur um den Faktor „Mitbestimmung“. Allein durch das Recht, direkt bei Grundsatzentscheidungen mittels Delegierten auf allen Ebenen mit zu regieren, entstehen andere Entscheidungen. Das Kapitalistische System lebte davon, dass die Eigentümer ganz allein und im Sinne ihrer kapitalistischen Interessen, Grundsätzliches entscheiden dürfen. Die Soziokratie fügt diesem System die Entscheidungsmacht der von den Auswirkungen betroffenen hinzu und zwingt die beiden Interessensgruppen, gemeinsam Lösungen zu finden, die für alle passen!
Das ist das Revolutionäre an der Soziokratie. Nicht, dass jetzt „das Proletariat“ regiert, wie zu Zeiten von Marx und Engels ausgerufen, sondern „wir entscheiden gemeinsam“, also die Eigentümer zusammen mit den Menschen, die auch da sind, als Mitarbeitende in den Firmen, als Kundinnen, als Zivilgesellschaft, als Nachbarn, usw. Es ist einfach klug und bringt allen etwas, wenn wir gemeinsam entscheiden.
Vielen Dank für das ausführliche Interview!
(Das Interview mit Barbara Strauch führte Jürgen Hamader,TAO im Juni 2017)
Buchempfehlung:
Barbara Strauch, Annewiek Reijmer (2016): Soziokratie – Das Ende der Streitgesellschaft, Wien, Soziokratie Zentrum Österreich, 2016.
erhältlich über: www.soziokratie.at/shop
Fussnoten:
[1] Anmerkung zur Genderregel: Barbara Strauch verwendet abwechselnd und synonym die weibliche und die männliche Form.
[2] Gewöhnlich beginnt man bei der Einführung mit der Beschlussfassung im Konsent. Diese erste Regel ist das Herzstück der Soziokratie, ohne diese es sich auch um eine Diktatur oder eine Mehrheitsdemokratie handeln könnte. Um eine Konsent-Entscheidung herbeizuführen, verwenden wir die soziokratische Konsent-Moderation, die der Gruppe hilft, in vier Rederunden gemeinsam, unter Einbeziehung aller, die beste Lösung zu finden.
[3] Gibt es – trotz erneuter Meinungsrunde – weiterhin einen schwerwiegenden, begründeten Einwand, kann der Lösungsvorschlag derzeit nicht beschlossen werden. Die Lösung wird vertagt oder an die nächsthöhere Ebene delegiert.
[4] Jeder Kreis hat eine eigene Mission und ein gemeinsames Ziel. Er organisiert die Ausführung der Angebote und Dienstleistungen selbst. Damit leistet er seinen Beitrag zum Gelingen des Zieles der Organisation. Die Mitglieder des Kreises werden vom Kreis selbst eingeladen oder verabschiedet, je nachdem, welche Kompetenzen zur Zielverwirklichung gebraucht werden.
[5] Die Leitung eines Kreises wird von der Führungsebene eingesetzt. Eine Vertreterin wird als Delegierte vom Kreis gewählt. Beide sitzen im nächsthöheren Kreis, zusammen mit den Vertretern anderer Kreise. Die wichtigste Aufgabe der Leitungsgebenden ist es, die Zielerreichung im Auge zu behalten und die Kreismitglieder entlang der gemeinsam getroffenen Entscheidungen bei der Ausführung anzuleiten. Die wichtigste Aufgabe der Delegierten ist es, die Interessen des eigenen Kreises im nächst höheren Kreis sicherzustellen.
[6] Mit Hilfe des Moderators legt der Kreis bei der offenen Wahl zuerst den Rahmen für die Rolle im Konsent fest, bevor jedes Kreismitglied auf einen Wahlzettel den eigenen Namen und dann den Namen der gewählten Person schreibt. Beim Vorlesen der Wahlzettel fragt der Moderator, warum diese Person gewählt wurde. Wenn alle ihre Wahl und die Argumente bekannt gegeben haben, gibt es eine zweite Rederunde, während der alle die Gelegenheit haben, aufgrund des gehörten ihre Meinung zu ändern. Am Ende wird die Entscheidung im Konsent getroffen.
[7] Eine „holarchische Hierarchie“ hat eine „fraktale Struktur“, was bedeutet, dass jeder Teil das ganze Bild in sich trägt und gleichwertig, mithilfe seiner eigenen Bedürfnisse und Erkenntnisse, die Entwicklung des Ganzen beeinflusst. Der Begriff stammt aus der „Integralen Theorie“ nach Ken Wilber und hat auch eine Verknüpfung zum „Evolutionären Unternehmen“ von Frederic Laloux.
[8] Wenn es bei dem Lösungsvorschlag, der insgesamt den geringsten Gruppen-Widerstand zeigte, Bewertungen mit 9 oder 10 Widerstandpunkten gibt, dann wird im Kreis versucht, entlang der zu diesem Zweck abgefragten Argumente, den ansonsten beliebtesten Vorschlag noch zu verbessern.
[9] Ich stelle mir die Kapitalzufuhr in so eine „Soziokratie-Gesellschaft“ nach Soziokratie-Recht mittels „Vermögenspool“ von Markus Distelberger vor. Die „Hüter“ des Unternehmens wären dann die Initiatoren, die auch ganz ohne eigenes Geld als Gründer auftreten könnten. Eigentümer wäre dann die Zivilgesellschaft, die selbst für ihre Wirtschaft sorgt. Angebot und Nachfrage würden weiterhin den Markt regeln. Verantwortlich, im Falle die Leitung wechseln würde, könnte eine Stelle in der Gemeinde sein, die in den Topkreisen der „Betriebe nach Soziokratie-Recht“ sitzt und diese Unternehmen entlang der gesellschaftlichen Bedürfnisse soziokratisch koordiniert.
Bildquellen: Fotolia, SoziokratieZentrumÖsterreich, TAO, Barbara Strauch