Soziokratie – Die Magie des Kreises

von Thomas Waldhubel

Wie kann man effektives Handeln sichern und trotzdem demokratische Entscheidungen fällen? Wie dem Wohl des Ganzen Priorität geben, ohne dass Einzelne sich ausgeschlossen fühlen?
Soziokratie, ein System aus Holland, schafft die Quadratur des Kreises und ist prinzipiell in jeder Organisationsform – vom Sportverein bis zum Unternehmen – anwendbar.

Ja, das ist es, danach habe ich immer gesucht, ohne es zu wissen!” So packte es mich bei der ersten Berührung mit Soziokratie bzw. SKM1. Wie oft hatte ich es in Gruppen von engagierten Idealisten erlebt, dass das Feuer  der anfänglichen Begeisterung im Hick-Hack der Kämpfe erlosch. Wie oft hatte ich Workshops gestaltet, Open Space erlebt und begleitet, Zukunftskonferenzen und Ähnliches moderiert mit dem schmerzlichen Wissen, dass diese Erlebnisse von selbstbestimmter Kreativität nicht dauerhaft sein werden. Die Arbeitsstrukturen, von Kontrolle und Fragmentierung bestimmt, werden dafür sorgen. SKM ist die Lösung mit alltagstauglichen, robusten Formen und Organisationsstrukturen!
Und eine Gewissheit in mir bekam wieder Kraft: „Jede Stimme muss gehört werden! Das ist der Weg.” Meine Überzeugung festigte sich in einem Gespräch mit Isabell Dierkes vom Soziokratischen Zentrum, das sich bald darauf fügte, und mir wurde klar: Dafür tue ich etwas! Davon sollen viele erfahren!
Seitdem lese ich zu SKM, was ich in die Hände bekomme, spreche darüber in meinen Beratungen und führe Workshops zum Kennenlernen durch. Und freue mich zu erleben, wie Teilnehmer sich anstecken lassen: „Gute Idee!”,
„anregend”, „guter Anstoß”, „Es gibt Hoffnung” „beglückend, inspirierend” „eine hilfreiche Struktur” „Aha-Erlebnis
bei der Wahl per Consent gehabt”, „bin angeregt zur Umsetzung”, „wünsche es mir in meiner Organisation” …

Verbindung in Gemeinschaft

Mit jedem Mal merke ich mehr, dass SKM tatsächlich einen Unterschied macht, eine neue, von vielen ersehnte Welt öffnet bzw. den Weg dorthin. Von der Macht über andere zur Gestaltungsmacht
mit anderen, von der Diskussion gegeneinander zur gemeinsamen Suche, vom „schroffen Individualismus”
zur Verbindung in Gemeinschaft…
Bloß mit dem Namen bin ich wenig glücklich: Soziokratie – wer denkt da nicht gleich an Bürokratie oder
ähnliche Monster? Einfach, gar schlicht kommen die vier Grundprinzipien daher.
Die Sprache allerdings – aus vergangenen Zeiten, technisch-nüchtern, spröde, angestaubt. Da wartet noch
richtige Übersetzungsarbeit.
Soziokratie kam in Holland zur Welt. Kees Boeke, Friedensaktivist und Pädagoge (1884-1966), hatte einen
Traum: eine wirkliche Demokratie, jenseits von Mehrheitsentscheidungen und Parteienstreit. Noch während des
Desasters von Nazi-Deutschland arbeitete er daran. Die repräsentative Demokratie hatte den Faschismus
nicht verhindern können. Eine wirkliche Demokratie sollte es also sein, die Verwaltung der Gemeinschaften
durch sich selbst: Sein Traum war von einem tiefen Vertrauen in die Weisheit von Gruppen erfüllt. Die Gesellschaft
der Freunde, die Quäker und ihr Versammlungssystem hatten ihn inspiriert.
Ihr Zusammenkommen “in der Stille” erzeugt unter ihnen ein Gewahrsein, aus dem heraus gesprochen
wird und auch brisante Entscheidungen sich finden, ohne Abstimmung, ohne Rednerliste…

Gemeinsam auf allen Ebenen

Als Kees Boeke 1944 im faschistisch besetzten Holland verhaftet wird, trägt er
ein Manuskript bei sich: „Sociocracy: Democracy As It Might Be!” Eine frische, kräftige und kühne Skizze einer
tiefen Demokratie durch sich selbst verwaltende lokale Einheiten, die ihre gemeinsamen Angelegenheiten auf einer
nächsten regionalen Ebene regeln – und so fort bis hin zur globalen Dimension. Sehr aktuell! Erprobt und entwickelt hat er diese Ideen in der von ihm 1926 gegründeten Werkplaats Community School, wo Schüler und Lehrer ihre Angelegenheiten gleichberechtigt regelten. Nach 1945 gingen die Kinder der Königsfamilie hier zur Schule.
Einer seiner Schüler wurde Gerard Endenburg, der dann Ingenieurwissenschaften studierte und als Entwickler bei Philipps arbeitete, bevor er in den späten 60ern das elterliche Unternehmen übernahm. Dort arbeitete er daran, die Ideen von Kees Boeke in die Wirklichkeit einer auf Effektivität ausgerichteten Organisation hineinzubringen und dort zu nutzen. Seine systemtheoretische Schulung half ihm dabei, und er entwickelte die soziokratische Kreisorganisationsmethode.
Später rief er das Sociocratisch Centrum in Rotterdam ins Leben und trug sein Konzept rund um die Welt nach
USA, Kanada, Brasilien … In den 80er Jahren stößt John A. Buck auf Gerard Endenburg und seine Ideen, ist begeistert und wird der erste amerikanische lizenzierte Trainer, heute auf Youtube zu erleben. Seit kurzem
kommt Soziokratie aus den USA zurück nach Europa, weiterentwickelt von Brian Robertson und im neuen
Gewand, gestrickt aus Ken Wilbers Konzepten und mit neuem Namen glänzend: Holacracy.

Begegnung im Kreis

Zentral in SKM ist der Kreis. Das holländische Wort dafür heißt ‚kring’ und hat zusätzlich die Bedeutung von Arena. Die Faröer haben sich lange in Kreisen organisiert, thing genannt. In vielen vorbürgerlichen Kulturen ist der Kreis die Form für Versammlungen, Beratungen, Entscheidungen. Die geometrische Figur eines Sitzkreises mit einer Leere in der Mitte bringt alle Beteiligten in Bezug zueinander. Sie gewährleistet, dass alle Stimmen gehört werden, dass sich im Gespräch die Mitte füllt und alle mit dem Ganzen in Berührung kommen.
Der Kreis ist auch die Grundform eines Lern- und Handlungsprozesses mit zielorientiertem Planen – effektivem Handeln – reflektierenden Überprüfen des Ergebnisses. Über solche Feedback-Prozesse steuern sich alle Lebewesen. Der Kreis hat die große Kraft, kollektive Intelligenz hervorzubringen.
Mit SKM gab Endenburg dem Konsensprozess der Quäker eine formale Struktur und festen Rahmen. Da ist die Form des Sitz-Kreises. Da ist eine Gesprächsleitung, die über den Ablauf wacht und einen ideellen talking stick herum gehen lässt, der jedem Sprechenden die Aufmerksamkeit aller sichert. Da ist ein Protokollant für die gefundenen Entscheidungen. Da ist die Unterscheidung in drei Phasen, die nacheinander und auch wiederholt durchlaufen werden: sich ein gemeinsames Bild von der Gesamtsituation machen – eine Lösung hervorbringen, die alle dem gemeinsamen Ziel näher bringt – die Zustimmung zu dieser Lösung testen, einen Consent herstellen – bei Einwänden erneut in die Schleife eintreten und bei Consent dies Ergebnis gemeinsam würdigen, feiern. Der Begriff Consent kommt von dem veralteten Wort „konsentieren” = einwilligen.
Die Kriterien zur Einwilligung kommen aus dem Blick auf die Gesamtsituation. Consent heißt nicht „Ja, ich stimme zu!”, sondern „Nein, ich habe keinen schwerwiegenden Einwand”. Ein solcher Beschluss wird in dem Kreis gemeinsam und kreativ auf der Basis von Argumenten gefunden und liegt dann innerhalb des Toleranzbereiches jedes Mitwirkenden im Hinblick auf ein gemeinsames Ziel. Bei Konsens dagegen können die Kriterien leicht aus dem Blick auf das eigene Ego kommen (kann ich damit übereinstimmen?) und dann den Einigungsprozess blockieren. Enach Consent dividiert die Beteiligten nicht auseinander, sondern entwickelt eine integrative Kraft. Hierarchien dagegen
bringen die kollektive Intelligenz zum Schweigen, weil sie Nachfragen entmutigen und in ihren Entscheidungen
andere Stimmen ignorieren.

Mehrheitsentscheidungen:

Einer ist immer der Verlierer Mehrheitsentscheidungen sind auch nicht der Weisheit letzter Schluss:
Hier kämpft eine Position gegen eine andere, um sich durchzusetzen. Die Argumente der „Verlierer” werden
ignoriert, ihre Energie geht verloren. Irgendwann gehen sie selbst auch – woandershin, um es neu zu versuchen.
Wer sich dem Konsens verpflichtet fühlt, kennt auch das regelmäßige Scheitern daran und die verschämte Rückkehr zur Mehrheitsentscheidung. Wie einfach und wirksam zugleich demgegenüber ein Consent-Prozess, der allen so viel Sicherheit gibt, dass sie anfangen, ihre ängstliche, misstrauische, egozentrische, feindlich gesonnene Haut abzustreifen, sich als „Anwalt des Ganzen” zu empfinden und ihr jeweils Bestes zu geben.
In SKM steuert sich ein Kreis als (teil-) autonome Organisationseinheit und trifft seine eigenen strategischen, politischen Entscheidungen, um seine Ziele zu erreichen. Die kreative Energie aller ist auf dieses Ziel gerichtet. Nicht die Hierarchie entscheidet, sondern die im Augenblick beste Lösung gewinnt Zustimmung aller und hat dann auch Verbindlichkeit. Die Blickrichtung ist auf das Ziel und die Situation gerichtet, so dass die Einwände nicht aus dem
narzisstischen Raum kommen (was bedeutet das für mich?) wie oft in Konsensprozessen. Vielmehr bringen sie Grenzen und Hindernisse des Gesamten zu Gehör, die nicht ohne Gefahr für das Ganze übergangen werden
können (was bedeutet dies für das Ganze, bringt es uns voran?).

Selbststeuerndes System

Wenn Organisationen wachsen, differenzieren sie sich, bilden mehrere Ebenen aus. SKM verbindet diese Ebenen durch eine lebendige, doppelte Koppelung von Kreisen: Ein Vertreter des ersten Kreises wird mit Consent von diesem Kreis gewählt und ist dann gleichberechtigtes Mitglied im nächst höheren Kreis. Der „höhere” Kreis wählt per Consent einen Leiter für den ersten, „unteren” Kreis. Informationen können von „unten” nach „oben” und von „oben” nach „unten” frei fließen, ohne Rücksicht auf hierarchische Positionen. Wie ein menschlicher Körper wird dann auch eine Organisation zu einem sich selbst steuernden komplexen System mit verschiedenen Ebenen (Zelle, Organ, Organsystem …) mit verschiedenen Wirklichkeitszugängen, wobei keine Ebene die andere dominierend  kontrolliert.
Alle Beteiligten nehmen eine „dienende” Funktion gegenüber der Organisation und ihren Zielen ein und verbinden ihr persönliches Wachstum mit der gemeinsamen Entwicklung. In diese gemeinsame Verantwortung können sich die  Leitenden entspannen, wenn sie denn ihre eigenen Macht- und Kontrollbestrebungen wahrnehmen und aufgeben.
In SKM werden auch Positionen per Consent-Wahl besetzt, statt sie wie üblich zu ernennen oder es denen zu überlassen, die sich bereit finden. Bei der Wahl macht sich der Kreis ein Bild von der Aufgabe, ihrer zeitlichen
Dauer und den erforderlichen Qualifikationen, und dann nominiert der Kreis mögliche Kandidaten aus seiner Mitte. Jeder gibt einen Wahlzettel ab. Und wer dann, nach einer zweiten oder dritten Runde, die Zustimmung aller findet, übernimmt dann die Aufgabe mit dem so gewonnenen Vertrauen aller. Der Wahlprozess wird zu einer Würdigung der Aufgabe und zu einer Beauftragung der gewählten Person. Dies gilt auch für die Position der Geschäftsführung.

Allgemeingültiges Prinzip

Die vier Prinzipien von SKM „Organisation in Kreisen”, „Entscheidung per Consent”, „Doppelte Koppelung”,
„Wahl von Funktionsträgern” sind wie leere Formen, sie sind überall verwendbar und funktionieren unabhängig vom Entwicklungsstand einzelner. Sie sind kompatibel mit Vereinen, Projekten, Genossenschaften, hierarchischen Strukturen. Sie helfen lebendige Organisationen zu schaffen mit gemeinsamer Kreativität und Verantwortung.  Entsprechend dem Wort von Friedrich Schiller: „Man soll die Stimmen wägen und nicht zählen.” werden die Stimmen
gehört und bedacht. Eine tiefere Demokratie kann sich entwickeln. Und genau danach ruft diese Krisenund Entscheidungszeit.

Thomas WaldhubelThomas Waldhubel

ist Supervisor DGSv und Dipl.-Psychologe und begleitet Personen, Gruppen, Teams und Organisationen. Von Kontemplativer Psychologie und Meditation inspiriert, ist er sehr interessiert an der Lösung von Blockaden,  Erweiterung der Wahrnehmung, Vermehrung von Handlungsoptionen, an Selbstverantwortung und Überschreitung
des Ego, an konstruktiver Konfliktbewältigung und Förderung von Kooperation und Entfaltung kollektiver Intelligenz.

Artikel zum Herunterladen:  Die Magie-des-Kreises v.Thomas Waldhubel Artikel in der Zeitschrift SEIN 2009